Spiegel der Zeit

Es ist Sieben Uhr Sechzehn. Wie jeden Morgen setzt der Zug sich in Bewegung, um mich zur Arbeit zu bringen. Ich schaue aus dem Fenster auf die vorbei fliegenden Häuser der Siedlung, in der ich wohne. Der Morgen bricht gerade erst an. Es ist noch dämmrig. Am nächsten Bahnhof steigt ein Junge in den Zug, setzt sich mir gegenüber in das Zugabteil. Er kramt einen Schnellhefter und ein Buch aus seiner Schultasche und macht offenbar seine Hausaufgaben. Ich schätze sein Alter auf vierzehn, vielleicht auch fünfzehn Jahre. Eine Weile beobachte ich ihn. Ich merke nicht, wie ich längst in Gedanken versunken bin und nur noch mein Körper hier im Zug sitzt. Nach einer Weile blickt der Junge auf. Ich kann sein Gesicht sehen. Es ist mein Gesicht.

 

Ich habe zwölf Minuten Zeit, meine Hausaufgaben zu erledigen. Ich schaffe das locker. In Deutsch bin ich gut. Für den Vortrag reichen mir ein paar Stichpunkte. Der Rest ergibt sich von selber. Das war schon immer so. Ich sehe aus dem Fenster. Im Spiegelbild des Fensterglases kann ich sehen, wie ein Mann zu mir herüber sieht. Wirklich wahrnehmen tue ich ihn nicht. Ich bemerke es nur im Unterbewusstsein.

Die ersten beiden Stunden gehen schnell vorbei. Als es klingelt, greife ich mir das Klassenbuch und verlasse den Deutschraum. Der Vortrag hat mir eine Zwei gebracht. Ich hatte damit gerechnet. Ich habe immer eine Zwei, manchmal auch Einsen. Schlechtere Noten fast nie, zumindest in Deutsch. Ich lehne mich auf dem Schulhof an eine der Mauern und kaue lustlos an meinem Pausenbrot. Etwas entfernt von mir stehen die Jungen aus meiner Klasse. Sie albern herum und erzählen sich, was sie gestern nach der Schule noch unternommen haben. Ich wäre gern dabei. Doch ich habe nichts zu erzählen. Jeden Tag, wenn die Schule aus ist, nehme ich den direkten Weg zum S-Bahnhof, steige in den Zug und fahre nach Hause. Ich wohne zu weit fort, um mich noch mit ihnen auf dem Spielplatz zu verabreden oder einfach nur zu reden. Manchmal begleitet mich Toby auf dem Weg zum Bahnhof. Er liegt auf seinem Heimweg. Toby ist der einzige Junge, der sich mit mir unterhält. Toby ist mein einziger Freund. Seine Eltern haben eine eigene Firma und in jedem Jahr fliegt er mit ihnen nach Bulgarien oder nach Ungarn in den Urlaub. Wir fahren zur Ostsee. Mir reicht das auch. Ich bin gern dort und freue mich immer wieder darauf, auch, wenn ich die Insel inzwischen in- und auswendig kenne. Manchmal aber ertappe ich mich beim Träumen, wie es wohl wäre, in fremde Länder zu reisen, fremde Sprachen zu sprechen. Dann frage ich mich, was tue ich wohl in zwanzig Jahren? Eine magische Zahl ist das Jahr Zweitausend. Dann bin ich fünfunddreißig Jahre alt. Was werde ich dann wohl tun? Was werde ich arbeiten? Habe ich eine Familie? Tue ich das, was ich mir heute wünsche? Muss ich mir heute schon Gedanken darüber machen, was ich eines Tages will? Ich habe noch einundzwanzig Jahre Zeit. Erst einmal muss ich die Schule fertig machen und eine Lehrstelle finden. Unsere Klassenlehrerin fragt ab und an, was wir einmal werden wollen. Ich weiß es nicht. Koch oder Kellner wäre nicht schlecht. Ich könnte mich auf großen Schiffen bewerben und in die Welt hinaus fahren. Meine Direktorin sagte mir einmal, ich könne Autoschlosser werden. Ich müsste mich nur mehrere Jahre bei der Armee verpflichten. Ich denke, das ist nicht das, was ich will. Doch was ich will, weiß ich auch nicht so richtig. Ich frage Toby, was er später einmal machen will. Er sieht mich an und sagt einfach nur: Flugzeugmechaniker oder irgendwas, dass ich nutzen kann, um in die Welt zu reisen.

Ich sehe ihn an. Wir sind uns ähnlicher, als ich dachte.

Nach Schulschluss fahre ich mit der U-Bahn in das Geschäft meiner Mutter. Es ist nicht wirklich ihr Geschäft. Sie ist Verkaufsstellenleiterin. Ich habe meinen Hausschlüssel vergessen und will mir ihren holen, damit ich nicht bis zum Abend vor der Tür stehen muss. Wenn ich im Geschäft bin, darf ich ab und zu auch die Kunden bedienen. Natürlich steht eine der Verkäuferinnen dabei und passt auf, wenn ich Kartoffeln und Zwiebeln abwiege. Vielleicht ist das ja auch ein Beruf, den ich erlernen könnte …

Es ist fast vier Uhr, als ich aus dem Zug steige. Am Bahnhof treffe ich Jan. Er fragt, ob ich mit ihm und den anderen zum See fahre. Ich lehne ab, denn ich muss noch die Matheaufgaben für morgen erledigen. Mathe ist nicht mein Ding. Ich kann die Aufgaben nicht in zwölf Minuten S-Bahn fahren erledigen. Für dieses Fach muss ich richtig lernen, obwohl fast nie etwas wirklich in meinem Kopf hängen bleibt.

 

Ich muss aussteigen. Auf der anderen Straßenseite steht schon der Bus, der mich ins Geschäft bringt. Während er durch die Stadt zuckelt, fällt mir der Junge aus dem Zug wieder ein. Die einundzwanzig Jahre sind längst vorbei. Meine Lehrjahre auch. Ich wurde kein Koch und kein Kellner. Ich fuhr auch nicht über das weite Meer in die Welt hinaus. Doch ich lernte, meine Gedanken in Kreativität umzuwandeln und als Dekor auf Torten und Kekse sichtbar zu machen. Es scheint, als hätte ich meinen Weg gefunden. Das Leben begann zu laufen und ich verschwende keinen Gedanken daran, es könnte nicht mein ureigenster Wunsch sein, so, wie es läuft. Ich habe nicht einmal das Gefühl, ich würde etwas tun, was ich nicht tun wollte.

An der nächsten Station steigt ein Mann in den Bus und setzte sich auf den freien Platz neben mir. Er kommt mir bekannt vor. Sein Gesicht erinnert mich an Toby.

 

Der letzte Schultag ist vorbei. In der Hand halte ich mein Facharbeiterzeugnis. Nun habe ich einen richtigen Beruf. Ich kann es gar nicht erwarten, meiner Freundin davon zu erzählen.

Flüchtig erinnere ich mich an meinen letzten Schultag, als ich mein Abschlusszeugnis in der Hand hielt. Ich war froh, die Schule hinter mir zu haben. Toby stand neben mir und wir versprachen uns, uns nicht aus den Augen zu verlieren.

Nun lag die Berufsausbildung hinter mir. Toby habe ich in den letzten zwei Jahren nicht wieder gesehen. Ich weiß nicht einmal, welchen beruflichen Weg er eingeschlagen hat. Der Gedanke an ihn ist nur kurz. Schnell werde ich wieder in den Strudel des Lebens gerissen, der keine Zeit für längere Verweilungen in meinen Gedanken zulässt.

 

Der Mann mit Tobys Gesichtzügen steigt aus. Kurze Zeit später ist er aus meinem Blickfeld verschwunden. Zwei Stationen noch, dann bin ich auf meiner Arbeitsstelle. Ich gehe von der Haltestelle an der Ecke die Straße entlang und bleibe vor dem kleinen Buchladen stehen. In der Schaufensterauslage liegt ein Buch. Mein Buch.

 

Wahllos kritzele ich Wörter auf ein Blatt Papier und versuche krampfhaft, daraus einen Text zu formen, der sich reimt, als mich das Klingeln des Telefons aus meiner Tätigkeit reißt. Am anderen Ende ist Toby. Er lädt mich zu einem Klassentreffen ein, sagt, er hätte ewig gebraucht, bis er mich gefunden hat. Wir telefonieren zwei Stunden. Während des ganzen Gespräches habe ich das Gefühl, ich hätte ihn erst gestern zum letzten Mal gesehen und nicht vor fast zwanzig Jahren.

Toby war nicht zur See gefahren und auch mit Flugzeugen hatte er nichts zu tun, was über die Nutzung derselben als Passagier hinausging. Er war inzwischen leitender Angestellter einer renommierten Hotelkette. Auch ich war längst nicht mehr mit Torten und anderen Gebäcken beschäftigt. Vielmehr hatte ich mich als Quereinsteiger für den Beruf des Einzelhandelskaufmanns entschieden. Obwohl mir alles, was ich tat unheimlich viel Spaß machte, hatte ich nach ein paar Jahren immer das Gefühl, ich würde nicht das tun, was ich wirklich wollte. Am Anfang jeder neuen Tätigkeit freute ich mich auf die Arbeit in der festen Gewissheit, ich hätte meine Berufung gefunden. Doch die Zeit verstrich und die Routine belehrte mich eines Besseren, immer mit dem waren Leben als Beweisgrundlage dafür.

Das Klassentreffen bestätigte dieses nur. Jeder meiner ehemaligen Klassenkameraden hatte einen Job, den er früher nie ins Kalkül gezogen hatte, zumindest der größere Teil von ihnen. Im Vordergrund stand immer, überhaupt eine Arbeit zu haben, die den Lebensunterhalt sicherte. Toby bildete da keine Ausnahme. Ich auch nicht. Nicht mehr.

 

Zwei Jahre ist es her, dass mein erstes Buch erschien. Es ergab sich per Zufall. Zahllose Manuskripte, Gedichte und Kurzgeschichten hatte ich schon im Internet auf einer eigenen Homepage veröffentlicht, als ein Verlag das erste Manuskript kaufte. Es reichte zwar nicht zum Leben, doch es erfüllte mich innerlich mit der Zufriedenheit, die ich in all den vergangenen Jahren in diversen Jobs vergeblich zu finden versuchte. Im Laufe der Zeit entwickelte ich das Schreiben zu einem weiteren Lebensprojekt für mich persönlich weiter. Damit soviel Geld zu verdienen, dass ich davon leben konnte, war nicht wichtig. Dafür hatte ich meine eigene Firma. Trotz aller Schwierigkeiten, die sich mir auftaten, macht mir dieses Leben Spaß, wenngleich es genauso anstrengend wie zeitaufwendig ist.

Auch nach diesem Klassentreffen sah ich Toby nicht wieder. Die Schulzeit, das Telefonat und das Klassentreffen waren wohl nur einige kleine Berührungspunkte in unser beider Leben, mit deren Hilfe uns, oder zumindest mir, das Schicksal Hinweise zu geben versuchte, zu uns selber zu finden und dementsprechende Entscheidungen zu treffen.

 

Ich sitze in der S-Bahn, die mich nach Hause bringt. Die Deutschaufgaben für morgen habe ich gerade fertig und nun sehe ich aus dem Fenster. Im Spiegel des Fensters sehe ich den Mann, den ich heute Morgen schon in der Bahn sah. Wieder sieht er mich an. Ich denke daran, wo ich wohl in dreißig Jahren sein werde. Was werde ich tun oder getan haben? Sitze ich in der Bahn und denke daran, was ich wollte, wenn mir gegenüber ein Junge sitzt, in dem Alter, in dem ich heute bin?

 

Falls ich irgendwann einmal während meines Lebens gewusst haben sollte, was ich wann erreicht haben wollte, so muss ich zugeben, dass ich es nicht erreicht habe, denn ich erinnere mich nicht mehr daran. Ich weiß nur, ich habe etwas erreicht. Ich habe mich mit den Dingen befasst, von denen ich glaube, sie waren für mich wichtig. Es spielt auch keine Rolle mehr, ob es das ist, was ich wollte oder ob ich es mir so gewünscht habe. Mein Leben ist eine Zusammenfassung von Entscheidungen, die ich in meinen jeweiligen Lebensphasen getroffen habe. Ich habe keinen Grund, mir ein anderes Leben zu wünschen als das, das ich habe.

Der Junge mir gegenüber, der auch heute Morgen schon mit mir in der Bahn saß, sieht mich an. Vielleicht denkt er gerade daran, wie es sein wird, wenn er einmal erwachsen geworden ist, so wie ich heute.