Tim und Tammy
Seit einer halben Stunde sitze ich hier im Zug nach Köln. Auf meinem Schoss liegt das aufgeschlagene ,,Sakrileg” von Dan Brown.
Seitdem der Zug sich in Bewegung gesetzt hat, lese ich dieselbe Seite.
Irgendwie bin ich mit meinen Gedanken woanders.
Seufzend schlage ich das Buch zu und lege es neben mir auf den freien Sitz.
Jetzt wird mir bewusst, wo meine Gedanken sind.
Sie sind bei einem kleinen blonden Mädchen, das mir gegenüber sitzt und mich die ganze Zeit neugierig ansieht.
Sie scheint hell erfreut darüber zu sein, dass ich das Buch beiseite gelegt habe, denn sie lächelt mir spitzbübisch zu.
Neben ihr sitzt ein Mann. Er ist ungefähr in meinem Alter.
Bestimmt der Vater der Kleinen.
Er lächelt mir zu und ich lächele zurück.
Das Mädchen sieht von mir zu ihrem Vater und wieder zurück.
,,Du, wie heisst´n du?”
,,Tammy!”
Erschrocken ruft ihr Vater seine Tochter zur Ordnung.
,,Entschuldigung. Tammy ist manchmal etwas sehr direkt und vor allem neugierig.”
,,Macht nichts. Schon okay.
Ich heiße Mitch.”
Erstaunt sah mich die Kleine aus großen Augen an.
,,Du hast aber einen komischen Namen. Ist der auch wirklich echt?”
,,Tammy, jetzt reicht es aber!”
Ihr Vater war knallrot im Gesicht geworden und beeilte sich, sich abermals bei mir zu entschuldigen.
,,Lassen Sie nur. Ich kann neugierige Kinder gut leiden und außerdem kann ich ja sagen, wenn es mir zuviel wird.”
,,Mama sagt immer, dass Kinder viel fragen müssen, sonst werden sie nicht klug. Also. Ist dein Name echt?”
,,Eigentlich heiße ich Michael, aber alle nennen mich nur Mitch”, sagte ich lachend.
,,Deine Mama ist eine kluge Frau.”
Einen Moment lang sah mich Tammy nachdenklich an.
Dann legte sie den Kopf schief auf ihre Schulter und grinste schelmisch.
,,Ja, das ist sie. Sie fragt mich dauernd, ob ich schon fertig mit Aufräumen bin und ob ich schon Zähne geputzt habe und alles solche Sachen. Da muss sie ja klug sein, wenn sie so viel fragen tut.”
Jetzt musste ich lauthals lachen und ihr Vater auch.
Ich sah ihn an und lächelte.
,,Sie haben eine goldige Tochter.”
,,Hach! Ich bin doch gar nicht seine Tochter.”
Tammy zerrte an meinem Ärmel und grinste wieder über ihr ganzes süßes Gesichtchen.
Ich spürte, wie ich rot anlief und sah ihren Begleiter fragend an.
,,Ich bin ihr Onkel. Tammys Mutter musste zu einem Lehrgang und ich passe die nächsten zwei Wochen auf sie auf “, klärte er mich auf.
,,Das wusste ich nicht.”
,,Wie konnten Sie auch.”
,,Meine Mama hat gesagt, ich muss Onkel Tim ein bisschen aufheitern, weil er immer so alleine ist” , ließ sich Tammy wieder vernehmen.
Nun war er es wieder, der rot anlief. Er warf seiner Nichte einen ärgerlichen Blick zu.
Aber Tammy plapperte unbeirrt weiter.
,,Mama sagt immer, dass er mal unter die Leute soll. Ich weiß zwar nicht, was er unter den Leuten machen soll, aber meine Mama wird schon wissen, was sie sagt.”
,,Tammy! Jetzt ist es aber genug!”
Erschrocken sah das Mädel ihren Onkel an.
Dann aber wich die Erschrockenheit einem spitzbübischen Lächeln.
,,Aber Mama hat das gesagt, und wenn sie was sagt, dann stimmt das auch. So!”
,,Ist ja schon gut. Das meinte ich auch gar nicht. Du sollst nur den Mann in Ruhe lassen.”
,,Warum denn? Er hat ja nicht gesagt, dass ich aufhören soll zu erzählen.”
Triumphierend sah Tammy erst ihn an und drehte sich dann wieder zu mir.
Dann grinste sie wieder über ihr ganzes Gesicht.
Sie gehörte zu den Menschen, denen man einfach nicht böse sein konnte.
,,Da hast du Recht”, sagte ich.
,,Siehst du, Mitch sagt, ich habe Recht. Also kann das nichts Schlimmes sein.”
Tammy freute sich sichtlich, als ich ihr das gesagt hatte.
,,Hast du eine Frau?”
Verblüfft starrte ich sie an. Auf so eine Frage war ich nun doch nicht gefasst gewesen.
,,Nein”, antwortete ich vorsichtig und spürte wieder das Blut in mir aufsteigen.
,,Aha”, machte Tammy, lehnte sich in die Polster der Abteilsitze zurück und sah mich nachdenklich an.
Dann legte sie den Kopf schief und plötzlich hellten sich ihre Augen auf.
,,Dann hast du einen Mann?”
Mir war, als würde nun alles Blut in meinem Körper auf dem Weg in meinen Kopf sein.
Ich spürte förmlich, wie ich glühte.
Tim war aufgeschreckt.
,,Tammy, halt jetzt deinen Mund!”
Scharf hatte er die Worte gerufen und Tammy sah ihn nun erschreckt an.
,,So etwas fragt man fremde Menschen nicht, denn das ist ihre Privatangelegenheit und geht niemanden etwas an!”
Mit großen Augen sah sie ihren Onkel an und ich konnte in ihren Augen schon das Lachen sehen, welches unweigerlich jeden Augenblick auf ihr Gesicht ziehen würde.
Mein Gesicht war wieder abgekühlt und insgeheim freute ich mich schon auf den nächsten Kommentar, den sie gleich los lassen würde.
,,Onkel Tim hat keinen Mann, aber er hätte gern einen.”
Das saß! Jetzt war es ihr Onkel, der knallrot anlief.
Ich lächelte ihn an.
Dann brachte sich Tammy wieder in Erinnerung.
,,Hast du nun einen Mann?”
Tim resignierte und warf sich in seinen Sitz zurück.
,,Nein, ich habe keinen Mann, aber ich hätte vielleicht auch gern einen.”
Jetzt lächelte Tim.
Dann hielt der Zug in dem Bahnhof, auf dem Tim und Tammy aussteigen mussten.
Tammy kritzelte irgendetwas auf ein Stück Papier, während Tim seinen und Tammys Koffer aus dem Gepäcknetz holte.
Dann verabschiedete er sich von mir und verließ das Abteil.
Tammy gab mir zum Abschied ihre kleine Hand. Dann ging sie ihrem Onkel hinterher.
Ich öffnete das Zugfenster und sah auf den Bahnsteig hinaus, den Beiden hinterher.
Der Zug hatte sich gerade wieder in Bewegung gesetzt, als sich Tammy umdrehte und mir zuwinkte.
,,Bis bald!”, rief sie und lachte fröhlich über ihr Gesicht, das ich wohl nie vergessen würde.
Ich winkte zurück und dann setzte ich mich wieder auf meinen Platz.
Das ,,Sakrileg” lag immer noch auf dem Nachbarsitz.
Ich schlug es auf und ein kleiner Zettel fiel heraus, auf dem mit kindlicher, krakeliger Handschrift eine Telefonnummer geschrieben stand, und drei Worte:
Tim und Tammy.