Martin - Feuer in der Seele

„Sehen Sie sich das zu Hause noch einmal genau an, damit der Test am Montag nicht genauso miserabel ausfällt wie der letzte. Auch wenn Ihre Aufmerksamkeit heute mehr als zu wünschen übrig gelassen hat, so hoffe ich doch, dass sie das Thema verstanden haben - auch Martin!“

Die Lehrerin war wie beiläufig die Bankreihen entlang gelaufen und blieb nun vor der vierten Bank stehen, in der Martin saß und gedankenverloren aus dem Fenster sah.

Die Klasse begann zu tuscheln und zu kichern.

Offenbar hatte Martin nichts von dem Annähern der Lehrerin bemerkt, denn er sah unbeeindruckt weiter aus dem Fenster und schien in Gedanken weit fort zu sein.

Die Lehrerin ließ das Klassenbuch, das sie in der Hand hielt mit einem lauten Knall auf den Tisch fallen, genau vor Martins Nase.

Die Klasse brach in schallendes Gelächter aus.

Martin zuckte zusammen und sah sie verdattert an.

Langsam kehrte er in die Realität zurück und ihm wurde bewusst, dass er sich gerade grenzenlos blamiert hatte.

„Jetzt, wo Sie wieder unter uns weilen, hätten Sie die Freundlichkeit sich die Hausaufgaben von der Tafel abzuschreiben.“

Die Lehrerin drehte sich um und ging zurück zum Lehrertisch.

Martin spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. Aus den Augenwinkeln sah er wie die anderen über ihn lachten.

In diesem Augenblick klingelte es und die Stunde war vorüber.

Er stopfte seine Bücher in die Tasche und drängte sich zur Tür hinaus auf den Flur, wo in langen Reihen rechts und links an den Wänden die Schülerspinde standen. An einem der Spinde gegenüber der Tür lehnte Joey, sein bester Freund, und grinste über das ganze Gesicht.

„Ich will nichts hören“ raunzte Martin ihn an und stürmte an ihm vorbei.

Joey schloss den Mund und schluckte die Bemerkung hinunter, die er schon auf den Lippen hatte.

Dann lief er Martin zur Treppe hinterher.

„Hey, sieh das doch locker.“

Joey klopfte seinem Freund von hinten auf die Schulter.

„Bei der Gehrmann musst du mit so was rechnen. Die wartet nur darauf, dass jemand nicht aufpasst…“

Schweigend gingen die Jungen nebeneinander über den Schulhof zum Ausgang.

„Was ist denn los mit dir? Du bist so seltsam in letzter Zeit.“

Joey sah Martin fragend an, bekam aber keine Antwort.

„Hallo – Erde an Martin! Ich rede mit dir.“

Martin blieb mitten auf der Strasse stehen.

„Es ist nichts.“

„Das glaube ich dir aber nicht. Ich habe eher das Gefühl, dass du vor mir davonläufst.“

„Das ist doch Quatsch“, konterte Martin.

„Ach ja ? Du siehst mich ja nicht einmal mehr an, wenn wir miteinander reden.“

Martin schwieg. Er sah an Joey vorbei ins Leere und schwieg einfach.

„Martin, rede mit mir! Hast du Ärger mit deinen Alten?“

Joey war ärgerlich, ließ es sich aber nicht anmerken. Instinktiv spürte er, dass etwas nicht stimmte. Ein paar Wochen ging das nun schon so. Wenn er bei ihm anrief und fragte, ob sie etwas zusammen unternehmen wollten, vertröstete Martin ihn immer wieder. Auf Fragen gab er ausweichende Antworten und es tat ihm innerlich sehr weh, dass er nicht mit ihm sprach, ja nicht einmal in die Augen konnte er ihm, Joey, sehen.

Er fühlte sich so hilflos. Schließlich war Martin sein bester Freund und sie kannten sich schon seit dem Kindergarten. So lange er denken konnte, hatten sie alles gemeinsam gemacht.

Klar, sie hatten zwar auch unterschiedliche Interessen, aber das meiste unternahmen sie doch gemeinsam, wenn auch einer von beiden nur Zuschauer war.

Martin war eher der Stillere von beiden. Er las viel, ging gern ins Kino und beschäftigte sich in der Schule mit der Organisation von Theateraufführungen und solche Sachen.

Joey war mehr der lockere Typ. Immer gut drauf, zu allen Schandtaten bereit und Martin musste ihm mehr als einmal Rückendeckung geben wenn er wieder mal Blödsinn gemacht hatte. Er konnte nie wirklich lange stillsitzen und seine große Leidenschaft war das Handballspiel.

Martin begleitete ihn oft zu seinen Spielen. Er sah sich die Spiele gern an, aber zum Mitspielen war sein Interesse nicht groß genug.

Joey rechnete es ihm hoch an, dass er trotzdem meistens unter den Zuschauern war. Er war auch dabei, als seine Mannschaft vor ein paar Wochen gegen die Mannschaft des Einstein-Gymnasiums gewonnen hatte.

Martin hatte ihm auch erzählt, dass er Journalismus studieren wollte und das seine Eltern das für Nonsens hielten, er solle lieber BWL studieren und später die Firma der Eltern übernehmen. Er hatte ihm auch erzählt, dass sie seine Entscheidung für das Journalistikstudium nie akzeptieren würden und deshalb hatte er ihnen auch verschwiegen, dass er bereits eingeschrieben war. Martin hatte gesagt, dass er es ihnen immer noch sagen könnte, wenn er angenommen würde. Außerdem würde er sich dem Ärger umsonst aussetzen, wenn er abgelehnt würde.

„Ist es wegen des Studiums?“, bohrte Joey weiter und stellte sich vor Martin.

Martins Augen sahen durch Joey hindurch und dann rückte er etwas zur Seite und sah an ihm vorbei.

Joey drehte sich um. Suchend musterte er die Umgebung und sein Blick blieb an einem langen schlaksigen Jungen hängen, der lässig an der Hauswand auf der anderen Straßenseite lehnte.

Es war der Kapitän der Handballmannschaft, gegen die Joeys Mannschaft gewonnen hatte.

Er hatte ihn neuerdings schon öfters hier in der Gegend gesehen, obwohl er in einem anderen Bezirk zur Schule ging.

Joey hob grüßend die Hand und drehte sich wieder Martin zu.

„Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?“, fragte er Martin ärgerlich.

„Was? Ja, natürlich!“, stotterte der und verriet damit, dass er nicht zugehört hatte.

Er war mit seinen Gedanken schon wieder ganz woanders gewesen.

Jetzt sah er Joey an, der inzwischen vor Ärger rot angelaufen war.

„Ich habe den Eindruck, dass ich dir völlig egal bin!“

„Das ist nicht wahr, Joey. Ich bin nur momentan nicht ganz ich selbst. Ich versteh es ja selbst nicht“, versuchte Martin ihn zu beruhigen.

„Damit gebe ich mich diesmal aber nicht zufrieden“, warf Joey ein.

„Komm, wir gehen heute mal wieder in den Club, so wie früher. Du musst mal wieder raus. Dann kommst du auf andere Gedanken. Bitte.“

„Meinetwegen“, murrte Martin mehr, um seine Ruhe zu haben, als das er Lust dazu hatte.

Aber er wusste, dass Joey Recht hatte. Er hatte sich verändert. Etwas in ihm hatte sich verändert und er hatte Angst davor. Es war ein unbekanntes, nie zuvor da gewesenes Gefühl, und davor hatte er Angst.

Martin war die Fragen von Joey leid und er schämte sich dafür weil er wusste, dass er im Grunde Recht hatte und ihm nur helfen wollte.

„Also, wir sehen uns dann heut Abend um acht im Club“, sagte er zu Joey und er war froh, als er seinen Bus um die Ecke biegen sah. Ehe Joey noch etwas erwidern konnte, war er eingestiegen und die Türen schlossen sich hinter ihm.

Etwas ratlos sah er dem Bus mit Martin darin nach und zum ersten Mal in den vielen Jahren die sie befreundet waren hatte er das Gefühl, dass er Martin nicht so gut kannte, wie er immer geglaubt hatte.

Dann drehte er sich um und ging in die andere Richtung davon.

 

#

 

Martin schloss die Tür des schicken Einfamilienhauses auf. Aus dem Esszimmer hörte er, wie sein Vater zu seiner Mutter sagte, dass er sich zum Studium einschreiben müsse.

Leise schlich Martin an der Tür vorbei zur Treppe. Er hatte absolut keine Lust auf irgendwelche Diskussionen. Er hatte die Treppe gerade erreicht, als Marie, seine Schwester, aus der Küche kam.

„Hey, Martin. Du kommst gerade richtig zum Essen.“

Martin hielt inne. Mit dem hinauf schleichen war es nun wohl vorbei.

Schon hörte er die Stimme seines Vaters aus dem Esszimmer.

„Martin? Wir müssen reden!“

„Später Dad. Ich bin müde und möchte auf mein Zimmer.“

Er war zum Esszimmer hinübergegangen und lehnte sich an den Türrahmen.

„Wann willst du dich endlich zum Studium eintragen?“

„Das kann ich doch immer noch.“

Genervt sah er seinen Vater an.

„Aber die BWL-Plätze sind schnell weg, Junge. Du kannst das nicht ewig hinauszögern.“

Dann kann ich immer noch etwas anderes studieren…“

„Das kommt ja gar nicht in Frage“, wetterte sein Vater.

„Es war immer klar, dass du BWL studierst.

Du wirst die Firma übernehmen und hast eine gesicherte Zukunft.“

„Kann ich jetzt gehen?“

Martin war zutiefst genervt und sah zu seiner Mutter hinüber.

Sie nickte leicht und lächelte ihm kaum merklich zu.

Er machte auf dem Absatz kehrt und lief schnell die Treppe hinauf in sein Zimmer, damit sein Vater ihn bloß nicht noch einmal zurückrufen konnte.

„Du stehst natürlich wieder auf seiner Seite.“

„Lass ihm Zeit, Frank.“

„Die hat er aber nicht. Und außerdem wofür auch. Es ist doch alles geregelt. Er braucht sich nur an der Uni einschreiben. Er hat mit seinen Noten die besten Chancen.“

Die Mutter schüttelte den Kopf.

„Ich weiß nicht, was in dem Jungen vorgeht. Er ist so anders in letzter Zeit…“

„Habt ihr schon mal daran gedacht, dass er verliebt sein könnte?“, warf Marie ein und steckte sich grinsend eine Kartoffel in den Mund.

Ihrer Mutter glitt die Gabel aus der Hand, die scheppernd auf den Teller fiel. Erstaunt sah sie ihre Tochter an.

„Kennst du das Mädchen?“

„Nein. Ich meine ja auch nur so.“

„Quatsch. Das hätte er mir doch erzählt. Söhne erzählen Vätern immer alles“, warf der Vater ein.

Marie lachte glucksend.

„In welchem Jahrhundert lebst du denn?“

Ihr Vater hob drohend die Hand.

Schnell sprang Marie auf, griff nach ihrem Teller und rief: „Ich muss noch Hausaufgaben machen.“

Im gleichen Augenblick verschwand sie aus der Tür.

„Eine Freundin! Die kann er jetzt am allerwenigsten gebrauchen. Außerdem ist er noch viel zu jung dafür“, nahm der Vater das Gespräch wieder auf.

„Martin ist achtzehn! Er ist kein Kind mehr.“

Erstaunt sah die Mutter ihren Mann an.

„Bei uns war alles anders.“

„Na, Gott sei Dank ist das vorbei. Ich glaube, Marie hat Recht. Du lebst wirklich in einem anderen Jahrhundert.“

Sie stand auf und begann das restliche Geschirr vom Tisch zu räumen, während ihr Mann sich brummend in seine Zeitung vertiefte.

 

#

 

Martin warf die Tür hinter sich ins Schloss und ließ sich auf sein Bett fallen. Er setzte die Kopfhörer auf und knipste die Stereoanlage an.

Er schloss die Augen und ließ seinen Gedanken freien Lauf.

Wie sollte er seinem Vater nur erklären, dass er auf keinen Fall BWL studieren würde. Nie würde er sein Einverständnis für den Journalismus geben. Er hielt ja nicht einmal etwas von den Gedichten und Geschichten, die er schrieb. Martin konnte sich die Auseinandersetzung mit ihm schon lebhaft vorstellen. Er sollte ja eines Tages die Firma übernehmen. Aber das war nicht das, was er wollte.

Sein Blick irrte durch das Zimmer und blieb am Computer hängen.

Er stand auf und ging zum Schreibtisch.

In der unteren Menüleiste blinkte es.

„Nachricht von MaSi“ stand dort.

Er setzte sich auf den Stuhl und tippte auf die Tasten.

„Hallo MaSi.“

Es dauerte einen Augenblick, dann kam die Antwort.

„Du hast lange nichts von dir hören lassen.“

„Hatte keine Zeit, musste noch fürs Abi lernen.“

„Und jetzt?“

„Geht so.“

„Hast du Sorgen?“

„Wie kommst du darauf?“

„Deine Antworten sind so knapp. Bin ich von dir nicht gewohnt.“

„Bin im Moment nicht so gut drauf.“

„Kann ich dir irgendwie helfen?“

Martin starrte einen Moment auf den Monitor. Er hatte MaSi vor einem Jahr im ICQ-Chat kennen gelernt. Martin hatte sich mit der Buchstabenkombination seines Namens, also „MaSi“ für Martin Silbermann anmelden wollen. Der Name war schon vergeben und darum war er neugierig geworden.

Viel wusste er nicht von ihm oder ihr. Aber das wollte er eigentlich auch gar nicht. Nur dass sie ungefähr in einem Alter waren. Er suchte jemanden zum Reden und in der Anonymität des Internets ging das ausgezeichnet. Offenbar waren beide auf der gleichen Wellenlänge und so hatte sich so etwas wie ein Freundschaftsverhältnis entwickelt.

„Hallo, bist du noch da?“

„Kennst du das Gefühl, dass du grenzenlos allein bist, obwohl lauter Leute um dich herum sind?“

„Oja! Nicht sehr schön.“

„Ich glaube, so kann ich meine momentane Verfassung am besten beschreiben.“

„Ist es wegen deiner Eltern?“

Sie hatten sich auch über die Studiumsgeschichte ausgetauscht.

„Auch. Aber da ist noch etwas anderes. Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll.“

„Versuch es einfach.“

„Es ist ein Gefühl, das ich noch nie hatte. Es macht mir Angst.“

„Klingt nach Verliebt sein.“

„Viel komplizierter.“

„Willst du darüber reden?“

„Vielleicht später. Nicht böse sein.“

„Schon okay.“

„Wie geht es dir?“

„Eigentlich gut. Ich glaub, ich hab mich verliebt.“

„Na, Herzlichen Glückwunsch.“

„Dazu ist es noch zu früh.“

„ ??? .“

„Mir fehlen die Worte, es ihm zu sagen und ich bin mir seiner auch überhaupt nicht sicher.“

Martin stutzte. Er chattete also ein Jahr lang mit einem Mädchen und hatte es nie bemerkt.

„Mit anderen Worten, du kennst ihn noch gar nicht?“

„Nur vom Sehen.“

„Keine gute Basis.“

„Kannste glauben.“

„Gib ihm ein Zeichen. Vielleicht macht er den ersten Schritt.“

„Kann ich mir nicht vorstellen, scheint ein wenig schüchtern zu sein. Aber danke für den Tipp.“

„Schon okay.“

„Ich muss jetzt aufhören, hab noch ein paar Verpflichtungen. Alles Gute und Kopf hoch. Ich bin hier, falls du jemanden zum Reden brauchst. Bis die Tage.“

„“Danke dir und viel Glück.“

Martin warf sich wieder auf sein Bett.

Er fühlte sich kein Stück besser.

 

#

 

„So, das wäre geschafft!“

Erleichtert klappte Marie das Mathematikbuch zu und warf es zu ihren anderen Schulsachen, die verstreut auf ihrem Bett herumlagen.

Jetzt hatte sie Zeit und überlegte, was sie damit anstellen sollte.

Sie könnte zu Anne, ihrer Freundin hinübergehen und mit ihr DVD´s anschauen. Aber richtig Lust dazu hatte sie nicht.

Sie könnte aber auch ihrem Bruder ein wenig auf die Nerven gehen.

Marie grinste in sich hinein.

Trotz der zwei Jahre Altersunterschied hatte sie zu ihm ein tolles Verhältnis. Klar, sie stritten sich auch manchmal, aber meistens hingen sie doch zusammen wie die Kletten.

Ab und an kam es sogar schon vor, dass einer ihrer Freunde oder Freundinnen auf einen von beiden eifersüchtig reagierte. Doch sie beruhigten sich meist schnell wieder und im Laufe der Zeit hatten sie gelernt, damit umzugehen.

Marie ging auf den Flur hinaus und klopfte an Martins Zimmertür.

Keine Antwort.

Sie klopfte ein zweites Mal.

„Kann ich reinkommen?“

Wieder keine Antwort.

Behutsam drückte sie die Klinke herunter und öffnete die Tür einen Spalt. Dann lugte sie ins Zimmer.

Ihr Bruder lag auf dem Bett, die Kopfhörer auf den Ohren und starrte an die Decke.

Er hatte Marie immer noch nicht bemerkt.

Leise ging sie zu ihm hinüber und legte ihre Hand auf seine Schulter.

Martin drehte den Kopf in ihre Richtung und nahm die Kopfhörer ab.

„Marie“, sagte er erstaunt und sie wusste nicht, ob das eine Frage oder eine Feststellung war.

„Ich habe zwei mal geklopft, aber du hast nicht geantwortet“, entschuldigte Marie ihr Betreten des Zimmers.

„Ich hab nichts gehört.“

„Wegen der Kopfhörer“, fügte er hinzu, als er Maries Gesicht sah.

„Du hast so traurige Augen.“

Sie sah ihm ins Gesicht und er wich ihrem Blick aus.

„Ach, das bildest du dir nur ein. Mir geht es gut.“

Aber der Tonfall, in dem er gesprochen hatte, strafte ihn Lügen.

Sie kannte ihren Bruder viel zu gut und sie wusste, dass er etwas mit sich herumtrug, mit dem er nicht klar kam.

„Es ist wegen Dad und dem Studium, nicht wahr?“, forschte sie.

„Ja, vielleicht“.

Martin verfiel wieder in seine ausweichenden Antworten.

„Irgendwann musst du es ihm sagen. Spätestens, wenn du zum Journalistikstudium zugelassen wirst.“

„Ja, ich weiß. Ich weiß nur nicht, wie. Mich interessiert dieses BWL-Zeug nun mal einfach nicht und die Firma will ich auch nicht. Die wäre bei dir in viel besseren Händen.“

Martin wusste, dass Marie gern BWL studieren wollte. Sie liebte die Firma schon als kleines Kind und er wusste, dass dort ihr Platz war, nicht seiner.

Es war schon traurig, wenn Vater davon sprach, ihm die Firma zu übergeben und es nicht einmal in Erwägung zog, dass Marie den Job ebenso gut, ja sogar besser machen konnte.

Er spürte auch, dass sie es schmerzte, obwohl sie es sich nie anmerken ließ.

Marie sah ihren Bruder immer noch an.

„Da ist noch etwas, nicht wahr?“

Sofort drehte Martin den Kopf weg und sie hatte den Eindruck, dass er rot geworden war.

„Willst du nicht mit mir darüber reden?“

Sanft legte sie ihren Finger an sein Kinn und drehte sein Gesicht in ihre Richtung zurück.

Martin schwieg.

„Wenn nicht jetzt, dann vielleicht später, ja?“

Sie wusste, er würde sich lieber die Zunge abbeißen, als nur ein Wort zu reden, wenn sie weiter bohrte.

„Ja. Später. Versprochen.“

„So, dann werde ich Mam in der Küche noch ein bisschen ärgern“, lenkte sie das Gespräch in eine andere Richtung.

„Wir sehen uns nachher zum Abendessen.“

Marie stand auf und ging zur Tür.

„Ich bin nicht da zum Essen“, erwiderte Martin.

„Ich habe mich mit Joey im Club verabredet. Es kann spät werden…“

„Na, wird ja auch Zeit, dass du mal wieder was unternimmst. Ich dachte schon, du willst hier im Haus versauern. Ich wünsche dir viel Spaß und grüße Joey von mir.“

„Das mache ich gern.“

Damit öffnete sie die Tür und ging hinaus.

„Marie!“, rief Martin ihr hinterher.

„Ja?“

„Danke!“

„Keine Ursache.“

Martin warf sich wieder auf das Bett zurück und starrte gedankenvoll an die Decke. Er vergaß sogar, die Kopfhörer wieder aufzusetzen, die ihm immer noch um den Hals baumelten.

Fast bereute er, Marie nicht gesagt zu haben, was ihn noch bedrückte.

Sie hatte sofort bemerkt, dass da noch etwas war. Sie hatte schon immer ein untrügliches Gespür, zwischen den Worten zu hören.

Martin stieß einen tiefen Seufzer aus. Er wusste inzwischen genau, was mit ihm los war.

Sein Herz hatte es ihm gesagt.

Das Dumme an der Sache war, dass sein Verstand es ihm verbot.

Er seufzte wieder.

Gegen das, was er empfand, war die Aussprache mit seinem Vater wegen des Studiums reinster Kinderkram.

Er spürte, wie sein Herz immer schwerer wurde.

Aber gleichzeitig war da auch so etwas wie Erleichterung, nun da er wusste, was es war, dass ihn quälte, auch wenn er sich dessen Tragweite noch nicht so ganz bewusst war.

Martin hatte innerlich mit sich gekämpft. Erst nur unbewusst. Später dann hatten die Gedanken und Gefühle in ihm Namen bekommen.

Es war ein langer Kampf mit sich selbst und Martin wusste, dass er noch nicht vorbei war. Diesem ersten Kampf würde ein zweiter folgen, der mit seiner Familie, und dann würde ein Dritter da sein, gegen die Gesellschaft, Freunde, Verwandte, Bekannte, wer auch immer.

Martin seufzte wieder.

Was sollte er tun? Er musste mit jemanden darüber reden.

Er brauchte die Antworten auf seine vielen Fragen oder er würde bis an sein Lebensende unglücklich sein.

Das war das Einzige, was er mit hundertprozentiger Sicherheit wusste.

Martin sah auf seine Uhr.

Es war kurz vor sieben.

Höchste Zeit, dass er unter die Dusche kam, wenn er pünktlich im Club sein wollte.

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Als Martin aus dem Bus stieg, hörte er schon von weitem, wie die Bässe aus der Diskothek herüberdröhnten.

Er überquerte den Parkplatz vor dem Club und konnte Joey sehen, der neben dem Eingang stand und sich mit Sarah und Mike unterhielt.

,,Hi“, sagte Martin und trat zu ihnen.

,,Hi!“ Sarah lachte ihn an.

,,Mensch, das du auch mal wieder hier bist! Dich hat man ja schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen. Wie geht es dir?“

,,Schlechten Menschen geht es immer gut“, erwiderte Martin.

,,Ist ganz schön voll hier heute, was?“

,,Freitags doch immer.“

,,Gehen wir rein?“

,,Wir warten noch auf Maria. Sie wollte um acht hier sein.“

,,Das schafft sie sowieso nicht“, frotzelte Joey und fing sich einen giftigen Blick von Sarah ein.

,,Maria ist halt nicht so überpünktlich wie du!“

,,Maria ist nicht mal normal pünktlich!“, konterte Joey.

,,Da ist sie doch schon“, rief Mike und wies mit dem Finger über den Parkplatz, über den abgehetzt ein blondes Mädchen rannte.

,,Entschuldigung, hab den Bus verpasst.“

,,Ist doch egal“, lenkte Martin ein. ,,Wir sind hier schließlich nicht in der Schule“.

,,Dann können wir ja endlich reingehen. Mir juckt es schon in den Beinen“, juxte Sarah.

Drinnen im Saal war die Musik noch lauter. Die Bässe dröhnten und es war, als würde der Boden unter ihren Füssen im Takt mitschwingen.

Sarah griff nach Mikes Hand, zog ihn mit sich auf die Tanzfläche und im gleichen Augenblick waren beide im Menschengewühl verschwunden.

,,Ich geh mal gucken, wer noch so hier ist“, schrie Maria Joey ins Ohr und verschwand ebenfalls.

,,Willst du ´ne Cola?“, fragte Martin Joey und steuerte ohne eine Antwort abzuwarten den Tresen an.

Joey zwängte sich zwischen die Tanzenden hindurch Martin hinterher, der mit den Armen in der Luft und kreisenden Bewegungen mitten über die Tanzfläche tänzelte.

Joey bewunderte ihn dafür.

Martin hatte die Gabe, durch seine pure Anwesenheit Sympathien aufzubauen.

er geriet meistens in kürzester Zeit zum Mittelpunkt, obwohl er es gar nicht darauf anlegte.

Er war immer da, wenn man ihn brauchte und wenn nicht, schwieg er - und war trotzdem da.

Joey war stolz darauf, dass Martin mit ihm befreundet war.

Er hatte die Tanzfläche fast überquert, als er mit jemand zusammenstieß.

,,Verzeihung, war nicht meine Absicht“, hörte er eine Stimme, die dem Jungen neben ihm gehörte.

er war mindestens einen Kopf größer als er.

Joey sah zu ihm hinauf und ein Lächeln flog auf sein Gesicht.

,,Matthias! Was machst du denn hier?“

,,Wollte mal sehen, wie ihr euch so die Zeit vertreibt, wenn ihr nicht gerade Handball spielt.“

,,Siehst du ja. Voll im Leben.“

Joey legte seine Hand auf Matthias´ Rücken und schob in Richtung Tresen aus der tanzenden Menge.

,,Martin, darf ich dir Matthias Sichel vorstellen, Kapitän der Handballmannschaft, die wir neulich besiegt haben.“

Martin drehte sich gerade mit zwei Colagläsern in den Händen um.

Für eine Sekunde hielt er den Blick des Sportlers fest, dann sagte er: ,,Freut mich, auch ne Cola? Hier, kannst meine haben.“

Ohne eine Antwort abzuwarten drückte er Matthias sein Glas in die Hand und wandte sich zum Barkeeper, um sich ein neues zu bestellen.

Ein wenig irritiert stand Matthias mit dem Glas in der Hand da und starrte Martin auf den Rücken.

,,So ist der immer“, lachte Joey, als er sein Gesicht sah.

Matthias aber starrte Martin noch immer auf den Rücken und sein Gesicht verzog sich zu einem leisen Lächeln.

Martin dagegen stand am Tresen und wartete ungeduldig auf seine Cola. Er spürte die Blicke im Rücken und es war ihm unangenehm. Als er endlich seine Cola hatte, kamen auch Sarah und Mike von der Tanzfläche zurück.

Den Rest des Abends vertrieben sich die Freunde mit tanzen und unterhalten.

Martin aber hatte immer wieder das Gefühl, beobachtet zu werden.

Um halb zwölf verabschiedete er sich von seinen Freunden.

,,Ich muss den letzten Bus noch kriegen, sonst kann ich nach Hause laufen.“

,,Toll, dass du mal wieder hier warst. Ich hoffe, dass wir uns wieder öfters sehen.“

Sarah küsste Martin freundschaftlich auf die Wange.

,,Wir werden sehen“, sagte Martin, umarmte Maria und drückte Joey und Mike die Hand.

,,Man sieht sich, schlaft gut.“

Dabei warf er noch einen flüchtigen Blick zu Matthias, nickte lächelnd und ging zum Ausgang.

Draußen überquerte er den Parkplatz, auf dem jetzt nur noch wenige Autos standen. Gleich hinter dem Parkplatz um die Ecke war die Bushaltestelle. Langsam schlenderte er die Strasse entlang bis zur Ecke.

Plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen. Vor ihm an der Haltestelle fuhr gerade der Bus nach Hause an.

,,Hey, bleiben Sie stehen! So warten Sie doch!“

Martin war losgerannt und schrie wild winkend dem Bus hinterher.

Aber der Bus fuhr erbarmungslos die Strasse hinunter und einen Augenblick später verschwanden die Rücklichter in der Dunkelheit.

,,So ein Dreck!“, fluchte Martin.

Warum musste ausgerechnet heute der Bus früher fahren.

Eigentlich hätte er das ja wissen müssen. Die Busse hier sind schon immer anders gefahren als es im Fahrplan stand. Keiner wusste, warum. Es war halt so. Nicht einmal die Beschwerden beim Rat der Stadt und der Busgesellschaft hatten etwas daran geändert.

Martin ließ sich auf die Holzbank in dem gläsernen Wartehäuschen fallen.

Ihm blieb wohl nichts anderes übrig, als nach Hause zu laufen.

Seine Laune sank auf den Nullpunkt.

Warum wohnten sie auch nicht hier in der Stadt, sondern fünfzehn Kilometer außerhalb. Aber soviel er auch fluchte, der Weg, der vor ihm lag würde sich dadurch nicht um einen einzigen lausigen Meter verkürzen.

Martin stand auf und ging die Strasse entlang, die zum Ortsausgang und auf die Landstrasse führte.

Plötzlich hielt neben ihm ein Auto.

Das Fenster wurde heruntergekurbelt und jemand fragte: ,,Kann ich dich mitnehmen?“

Martin beugte sich zum Fenster hinunter und sah ins Auto.

,,Matthias?“, staunte er.

,,Der Bus ist wieder mal früher gefahren.“

,,Steig ein. Ich fahre dich nach Hause.“

,,Du weißt nicht, wo ich wohne!“

,,Es wird schon nicht auf dem Mond sein.“

,,Immerhin fünfzehn Kilometer.“

,,Die Zeit dafür habe ich gerade noch. Nun steig schon ein.“

Martin öffnete die Tür und stieg zu Matthias in den Wagen.